Veröffentlicht am Mai 17, 2024

Die Rettung des kulturellen Erbes in Deutschland hängt nicht von seiner musealen Konservierung ab, sondern von seiner aktiven Neubelebung durch die Gemeinschaften selbst.

  • Der wahre Wert einer Tradition liegt nicht in ihrer Form, sondern in ihrer Fähigkeit, Gemeinschaft zu stiften und über Generationen weitergegeben zu werden.
  • Authentizität zu wahren bedeutet nicht Stillstand, sondern die Schaffung von „Relevanz-Brücken“, die altes Wissen für die heutige Zeit übersetzen und attraktiv machen.

Empfehlung: Konzentrieren Sie sich als Kulturbewahrer weniger auf die reine Dokumentation und mehr auf die Schaffung partizipativer Erlebnisse, die junge Menschen für ihr lokales Erbe begeistern.

Ein sorbisches Erntetanzritual, ein überliefertes Handwerk oder ein regionaler Dialekt – was macht diese flüchtigen Ausdrucksformen menschlicher Kultur so wertvoll, dass sie ebenso schützenswert sind wie ein steinernes Schloss? Viele denken bei der Bewahrung von Traditionen an verstaubte Archive und museale Vitrinen. Man versucht, Bräuche zu katalogisieren und in einem möglichst ursprünglichen Zustand zu „konservieren“. Doch dieser Ansatz greift zu kurz und führt oft in eine Sackgasse: die Folklore-Falle, in der gelebte Kultur zur reinen Touristenattraktion verkommt.

Die eigentliche Herausforderung und zugleich die größte Chance liegt nicht in der passiven Konservierung, sondern in der aktiven Weitergabe. Es geht darum, die Glut weiterzureichen, nicht die Asche anzubeten. Doch wie gelingt dieser Spagat zwischen dem treuen Bewahren des Kerns einer Tradition und ihrer notwendigen Anpassung an eine sich ständig wandelnde Gesellschaft? Wie kann ein Heimatpfleger oder Kulturbeauftragter sicherstellen, dass ein 200 Jahre alter Brauch für einen 15-Jährigen mehr bedeutet als eine Anekdote aus dem Geschichtsbuch?

Dieser Artikel beleuchtet die Mechanismen der erfolgreichen Tradierung in Deutschland. Er zeigt, dass die Lösung nicht in starren Regeln liegt, sondern in der Schaffung einer dynamischen, gelebten Kultur. Wir werden untersuchen, wie Gemeinschaften selbst zu den wichtigsten Akteuren werden, die ihr Erbe nicht nur bewahren, sondern es neu beleben und ihm eine Zukunft geben.

Um diese komplexen Zusammenhänge zu verstehen, beleuchten wir verschiedene Facetten des Themas, von der Dokumentation bis zur modernen Vermittlung. Der folgende Überblick führt Sie durch die zentralen Fragestellungen und Lösungsansätze.

Warum ist ein Erntetanzritual genauso schützenswert wie ein mittelalterliches Schloss?

Ein mittelalterliches Schloss ist greifbar. Seine Mauern erzählen von Macht, Architektur und Geschichte. Ein Erntetanzritual hingegen ist flüchtig – es existiert nur im Moment seiner Ausübung. Dennoch liegt in dieser Flüchtigkeit seine eigentliche Stärke. Während ein Bauwerk die Vergangenheit konserviert, verkörpert das immaterielle Kulturerbe lebendiges soziales Geschehen. Es geht nicht um Steine, sondern um Menschen, Wissen und Gemeinschaftsgefühl. Deutschland hat die Bedeutung dieses „lebendigen Erbes“ erkannt; das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes umfasst bereits 168 Einträge laut aktuellen Zahlen der Deutschen UNESCO-Kommission.

Diese Anerkennung unterstreicht einen fundamentalen Wandel im Kulturbegriff: Der Wert einer Tradition bemisst sich nicht an ihrer materiellen Manifestation, sondern an ihrer sozialen Funktion. Ein gutes Beispiel ist die traditionelle Bewässerung, die von Deutschland und sechs weiteren Ländern als Kulturerbe nominiert wurde. Hierbei handelt es sich um eine jahrhundertealte, nachhaltige Technik, die Wissen über Natur, Physik und Gemeinschaftsarbeit vereint und somit weit über reines Brauchtum hinausgeht. Sie ist ein System geteilten Wissens, das aktiv genutzt wird.

Der wahre Schutz liegt also nicht darin, eine Tradition einzufrieren, sondern ihre Weitergabe zu ermöglichen. Es ist die menschliche Interaktion, die den Kern ausmacht. Christoph Wulf, Vizepräsident der Deutschen UNESCO-Kommission, fasst diesen Gedanken prägnant zusammen:

Das Immaterielle Kulturerbe prägt unser Leben und unsere Gesellschaft. Es verbindet Generationen, schlägt Brücken zwischen ganz unterschiedlichen Menschen und stärkt das Miteinander. Wer Wissen und Können weitergibt, stiftet Gemeinschaft.

– Christoph Wulf, Vizepräsident der Deutschen UNESCO-Kommission

Ein Erntetanz ist somit mehr als eine Abfolge von Schritten; er ist ein sozialer Kit, der eine Trägergemeinschaft formt und stärkt. Sein Schutz ist eine Investition in den gesellschaftlichen Zusammenhalt – und damit mindestens so wertvoll wie der Mörtel, der ein altes Schloss zusammenhält.

Wie dokumentieren deutsche Museen Dialekte, bevor die letzten Sprecher sterben?

Wenn der letzte Sprecher eines Dialekts verstummt, stirbt mehr als nur eine Ansammlung von Wörtern. Es verschwindet eine einzigartige Weltsicht, geprägt von lokaler Geschichte, Humor und Identität. Museen und Forschungsinstitute in Deutschland stehen daher in einem Wettlauf gegen die Zeit. Doch die moderne Dokumentation hat sich von der reinen Archivierung in staubigen Kellern verabschiedet. Heute geht es um eine digitale Wiederbelebung, die Dialekte und andere kulturelle Ausdrucksformen zugänglich und interaktiv erlebbar macht.

Wissenschaftler dokumentiert Dialekte mit moderner Aufnahmetechnik

Moderne Technologien wie hochauflösende Audio- und Videoaufnahmen, digitale Sprachatlanten und interaktive Online-Archive sind dabei die wichtigsten Werkzeuge. Sie ermöglichen es nicht nur, die phonetische Feinheit eines Dialekts zu bewahren, sondern auch den Kontext – die Mimik, die Gestik und die Geschichten der Sprecher. Plattformen wie das bayerische Kulturportal bavarikon zeigen beispielhaft, wie kulturelle Ausdrucksformen für eine breite Öffentlichkeit dokumentiert und ansprechend präsentiert werden können, um die Vielfalt des kulturellen Erbes sichtbar zu machen. Es geht nicht nur darum zu speichern, sondern auch darum zu teilen und zu begeistern.

Für Heimatpfleger und Kulturbeauftragte, die selbst aktiv werden wollen, ist ein systematisches Vorgehen entscheidend. Der folgende Plan fasst die zentralen Schritte einer erfolgreichen Dokumentationsinitiative zusammen.

Aktionsplan zur Kulturerbe-Dokumentation: Von der Idee zur digitalen Präsentation

  1. Beratung und Vernetzung: Nehmen Sie Kontakt mit den Trägergruppen (z.B. Dialektsprechern) und Fachexperten auf, um das Vorgehen gemeinsam zu planen und Unterstützung für eine mögliche Bewerbung als Kulturerbe zu sichern.
  2. Systematische Erfassung: Führen Sie strukturierte Interviews und Aufnahmen durch. Dokumentieren Sie nicht nur die Sprache, sondern auch die Geschichten, das Umfeld und die Bedeutung des Kulturguts für die Menschen.
  3. Analyse des Wandels: Untersuchen Sie, wie sich die kulturelle Praxis (z.B. der Dialektgebrauch) über die Zeit verändert hat. Welche Faktoren bedrohen sie, welche fördern sie?
  4. Aufbau eines Netzwerks: Verbinden Sie die verschiedenen Akteure – Sprecher, Forscher, Museen, Schulen und die lokale Verwaltung –, um eine nachhaltige Sicherung und Vermittlung zu gewährleisten.
  5. Digitale Präsentation: Erstellen Sie eine zugängliche Online-Plattform, eine virtuelle Ausstellung oder interaktive Karten, um die Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und zur Auseinandersetzung anzuregen.

Die digitale Dokumentation ist somit kein Selbstzweck, sondern eine Brücke. Sie bewahrt nicht nur das Wissen für die Forschung, sondern gibt es auch an die Gemeinschaft zurück und schafft so neue Anknüpfungspunkte für künftige Generationen.

Freilichtmuseum vs. gelebte Gemeinschaftspraxis: Was erhält Traditionen authentischer?

Ein Freilichtmuseum zeigt, wie das Leben *war*. Es konserviert Gebäude, Werkzeuge und Lebensweisen in einer Momentaufnahme der Vergangenheit. Dieser Ansatz ist wertvoll für die Bildung, birgt aber die Gefahr, Traditionen als abgeschlossene, statische Objekte darzustellen. Im Gegensatz dazu steht die gelebte Gemeinschaftspraxis, bei der Wissen und Können innerhalb einer Gruppe aktiv weitergegeben werden. Hier ist die Tradition kein Ausstellungsstück, sondern ein dynamischer, sich entwickelnder Prozess. Doch welcher Weg sichert die Authentizität besser?

Die Antwort liegt in der Definition von Authentizität selbst. Ist ein Brauch authentisch, wenn er exakt so ausgeführt wird wie vor 200 Jahren? Oder ist er authentisch, wenn er für die heutige Gemeinschaft eine echte, gelebte Bedeutung hat? Das UNESCO-Übereinkommen und die deutsche Praxis favorisieren klar die zweite Sichtweise. Authentizität entsteht durch die kontinuierliche Auseinandersetzung der Menschen mit ihrem Erbe. Das deutsche Verzeichnis listet deshalb nicht nur Traditionen, sondern auch 20 Modellprogramme zur Erhaltung Immateriellen Kulturerbes, die als Gute Praxisbeispiele für aktive Weitergabe gelten.

Ein herausragendes Beispiel für diese gelebte Praxis ist das Bauhüttenwesen. Hier wird das Wissen um traditionelle Handwerkstechniken nicht in Büchern archiviert, sondern direkt von Meister zu Geselle am realen Objekt – dem Dom oder der Kathedrale – weitergegeben. Wie die UNESCO-Nominierung zeigt, die Deutschland gemeinsam mit vier anderen Ländern vorantrieb, ist dies ein grenzüberschreitendes Netzwerk des Wissensaustauschs. Die Handwerker bewahren nicht nur alte Techniken, sie entwickeln sie auch weiter, um modernen Herausforderungen zu begegnaien. Diese Praxis ist lebendig, relevant und somit zutiefst authentisch.

Das Freilichtmuseum dient als Fenster in die Vergangenheit, doch die wahre Lebensader einer Tradition ist die Gemeinschaft, die sie trägt, anpasst und mit Bedeutung füllt. Der Fokus für Kulturbewahrer sollte daher weniger auf der Rekonstruktion eines „perfekten“ Urzustands liegen, sondern auf der Stärkung der Trägergemeinschaften und der Schaffung von Rahmenbedingungen, in denen Wissen und Können fließen können.

Wie werden bayerische Volksfeste zu Folkloretheater für Touristen statt gelebter Kultur?

Bayerische Volksfeste, mit ihrer Farbenpracht, Musik und Geselligkeit, sind ein Paradebeispiel für gelebte Tradition. Doch genau ihr Erfolg birgt eine Gefahr: das Authentizitäts-Dilemma. Sobald eine Tradition eine hohe touristische Anziehungskraft entwickelt, wächst der Druck, sie zu standardisieren, zu kommerzialisieren und als perfekt inszeniertes „Folkloretheater“ zu präsentieren. Der ursprüngliche gemeinschaftliche Charakter tritt in den Hintergrund, und der Brauch droht, seine Seele zu verlieren. Mit 71 kulturellen Ausdrucksformen, die bis 2023 allein in Bayern ins Landesverzeichnis aufgenommen wurden, ist das Potenzial für diesen Konflikt enorm.

Die Grenze zwischen authentischem Fest und kommerziellem Event ist fließend. Ein Indikator für die Verschiebung ist, wenn die Bedürfnisse der Besucher über die der Trägergemeinschaft gestellt werden. Wenn die Musik lauter wird, um ein Party-Publikum anzuziehen, wenn handgefertigte Dekoration durch Massenware ersetzt wird oder wenn lokale Rituale zu bloßen Fotomotiven verkümmern, ist die Tradition in Gefahr. Sie wird konsumierbar, verliert aber ihre Funktion als identitätsstiftendes Ereignis für die lokale Bevölkerung.

Traditionelles bayerisches Fest mit authentischen Elementen

Dennoch ist Kommerzialisierung nicht per se schlecht. Einnahmen können helfen, die oft kostspielige Organisation zu finanzieren und die Tradition am Leben zu erhalten. Der Schlüssel liegt in der Balance und der Kontrolle durch die Gemeinschaft. Martin Schöffel, Finanz- und Heimatstaatssekretär in Bayern, betont die emotionale Bindung, die es zu schützen gilt:

Unser Immaterielles Kulturerbe prägt unsere Identität, stärkt den Zusammenhalt und vermittelt ein Gefühl von Zugehörigkeit! Ob Bräuche, Feste, Musik, Theater und Tanz, Naturwissen oder traditionelle Handwerkstechniken: All das gehört zu unserer Heimat Bayern.

– Martin Schöffel, Finanz- und Heimatstaatssekretär Bayern

Für Heimatpfleger bedeutet dies, wachsam zu sein. Es gilt, die Trägergemeinschaften zu stärken, damit sie die Kontrolle über ihre Feste behalten. Sie müssen befähigt werden, klare Regeln aufzustellen, welche Aspekte ihrer Tradition unverhandelbar sind und wo Öffnung und Modernisierung möglich sind, ohne den Kern zu verraten. So kann ein Volksfest sowohl für Einheimische als auch für Gäste ein bereicherndes Erlebnis bleiben.

Wie begeistern Sie 15-Jährige für 200 Jahre alte Handwerkstraditionen?

Die größte Hürde bei der Tradierung ist oft die gefühlte Kluft zwischen der Lebenswelt Jugendlicher und einer jahrhundertealten Praxis. Ein 200 Jahre altes Handwerk kann schnell als veraltet und irrelevant empfunden werden. Der Schlüssel zur Überwindung dieser Kluft ist der Bau einer „Relevanz-Brücke“: die Verbindung der Tradition mit den Werten, Medien und Interessen der jungen Generation. Es geht nicht darum, die Tradition zu verbiegen, sondern ihre verborgenen, zeitlosen Qualitäten sichtbar zu machen.

Eine solche Brücke kann über verschiedene Pfeiler gebaut werden:

  • Nachhaltigkeit und Sinnhaftigkeit: Viele junge Menschen suchen nach Alternativen zur Wegwerfgesellschaft. Ein altes Handwerk, das auf Langlebigkeit, regionale Materialien und Können setzt, kann als hochmoderne und sinnstiftende Tätigkeit präsentiert werden.
  • Kreativität und Selbstverwirklichung: Statt starrer Reproduktion sollten Freiräume für eigene Interpretationen geschaffen werden. Workshops, in denen traditionelle Techniken für eigene, moderne Designs genutzt werden, wecken den kreativen Geist.
  • Digitale Vermittlung: Tutorials auf YouTube, ansprechende Instagram-Profile, die den Herstellungsprozess zeigen, oder sogar TikTok-Videos können die Ästhetik und das Können eines Handwerks auf eine Weise vermitteln, die Jugendliche erreicht.

Der wichtigste Schritt ist jedoch ein erweiterter Kulturbegriff. Die Aufnahme der Berliner Technokultur in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes im Jahr 2024 ist hier ein wegweisendes Signal. Sie zeigt, dass Kultur nicht alt sein muss, um wertvoll zu sein, und dass Werte wie Vielfalt, Respekt und Weltoffenheit, die mit Techno verbunden sind, ebenfalls Teil unseres Erbes sind. Diese Anerkennung legitimiert auch junge Kulturformen und baut Mauern zwischen „ernster“ und „unterhaltender“ Kultur ab.

Wie die Kultusministerkonferenz betont, gehören junge Kultur und jahrhundertealtes Handwerk gleichermaßen zum deutschen Kulturerbe. Für Heimatpfleger bedeutet das: Sprechen Sie die Sprache der Jugend, nehmen Sie ihre Kultur ernst und zeigen Sie auf, wo sich die Werte alter Traditionen mit den Idealen von heute treffen. So wird aus einem alten Handwerk eine spannende Entdeckungsreise.

Warum revolutionierten Arbeiterklasse-Jugendliche in Hamburg die deutsche Rockmusik der 60er?

Tradition wird oft mit ländlichem Brauchtum und konservativen Werten assoziiert. Die Geschichte der Rockmusik in Hamburg zeigt jedoch eindrucksvoll, dass kulturelles Erbe auch in urbanen, jugendlichen Subkulturen entstehen kann – oft als bewusster Bruch mit bestehenden Konventionen. In den frühen 60er Jahren wurde Hamburg, insbesondere der Stadtteil St. Pauli, zum Schmelztiegel für eine neue musikalische Energie. Junge Musiker aus der Arbeiterklasse, inspiriert vom britischen Beat und amerikanischen Rock ’n‘ Roll, schufen einen rauen, direkten Sound, der die biedere deutsche Schlagerszene revolutionierte.

Diese Bewegung war mehr als nur Musik. Sie war ein Ausdruck eines neuen Lebensgefühls, einer Rebellion gegen das Establishment und die starren sozialen Normen der Nachkriegszeit. Clubs wie der Star-Club wurden zu legendären Orten, an denen nicht nur lokale Bands, sondern auch die damals noch unbekannten Beatles ihre Sporen verdienten. Die Hamburger Szene war keine von oben geförderte Hochkultur, sondern eine organisch gewachsene Graswurzelbewegung. Sie schuf ihre eigenen Codes, Modestile und eine eigene Identität und wurde so selbst zu einer prägenden kulturellen Tradition.

Dieses Beispiel unterstreicht eine wichtige Erkenntnis, die auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth hervorhebt: Die Trennung zwischen sogenannter E-Kultur (ernste Kultur) und U-Kultur (Unterhaltungskultur) ist überholt.

Die Neuzugänge veranschaulichen nicht nur die regionale Vielfalt und thematische Breite der gelebten Kultur in Deutschland, sie stehen auch für einen erweiterten Kulturbegriff, der sich gegen die absurde Trennung von E- und U-Kultur wendet.

– Claudia Roth, Kulturstaatsministerin

Für Kulturbewahrer bedeutet dies, den Blick zu weiten. Wertvolles Erbe kann überall entstehen: in einem Gesangsverein auf dem Land wie bei der Finsterwalder Sangestradition, deren berühmtes Sängerlied auf eine Theateraufführung von 1899 zurückgeht, aber eben auch in den lauten, schwitzigen Kellern einer Großstadt. Die Aufgabe ist es, diese vielfältigen kulturellen Ausdrucksformen zu erkennen und ihre Bedeutung für die jeweilige Gemeinschaft wertzuschätzen.

Wie macht ein schwäbischer Trachtenverein Dirndl für die Instagram-Generation attraktiv?

Eine traditionelle Tracht kann schnell wie ein Kostüm aus einer anderen Zeit wirken, besonders in den Augen einer Generation, die an schnelllebige Modetrends und globale Ästhetik gewöhnt ist. Für einen schwäbischen Trachtenverein liegt die Herausforderung darin, das Dirndl oder die Lederhose nicht als museales Kleidungsstück, sondern als relevantes, attraktives Ausdrucksmittel zu präsentieren. Der Weg führt über die Betonung von Individualität, Handwerkskunst und moderner Inszenierung.

Die Instagram-Generation schätzt Authentizität und Storytelling. Statt die Tracht nur bei offiziellen Anlässen zu zeigen, können Vereine die Geschichten hinter den Stoffen, Stickereien und Schnitten erzählen. Ein Blick hinter die Kulissen, der die aufwendige Handarbeit und die hohe Qualität der Materialien zeigt, schafft Wertschätzung. Die Anerkennung der Schwälmer Weißstickerei als Immaterielles Kulturerbe im Jahr 2024 ist ein Beleg für den kulturellen Wert, der in solchen textilen Techniken steckt. Man kann aufzeigen, dass eine handgefertigte Tracht das Gegenteil von Fast Fashion ist: ein nachhaltiges, langlebiges und zutiefst persönliches Kleidungsstück.

Junge Menschen präsentieren traditionelle Tracht modern interpretiert

Visuelle Plattformen wie Instagram sind die ideale Bühne für eine moderne Interpretation. Anstatt steifer Gruppenfotos können dynamische Bilder von jungen Menschen, die ihre Tracht selbstbewusst und individuell im Alltag oder bei besonderen Anlässen tragen, eine neue Anziehungskraft entfalten. Es geht darum zu zeigen: Tracht ist nicht Verkleidung, sondern Ausdruck von Persönlichkeit und regionaler Identität. Kooperationen mit lokalen Designern, die traditionelle Elemente in moderne Kollektionen integrieren, oder Workshops, in denen man lernt, Accessoires selbst herzustellen, können weitere „Relevanz-Brücken“ bauen.

Der Schlüssel liegt darin, den Fokus vom reinen Konservieren auf das kreative Aneignen zu verlagern. Wenn junge Menschen die Möglichkeit erhalten, die Tracht zu ihrem eigenen zu machen und ihre Geschichte neu zu erzählen, wird sie von einem Relikt der Vergangenheit zu einem lebendigen Teil ihrer Gegenwart.

Das Wichtigste in Kürze

  • Traditionsschutz bedeutet nicht Stillstand, sondern aktive, partizipative Weitergabe innerhalb der Gemeinschaft.
  • Authentizität wird nicht durch exakte Replikation, sondern durch die gelebte Relevanz einer Tradition für heutige Generationen gewahrt.
  • Die erfolgreiche Tradierung erfordert den Bau von „Relevanz-Brücken“, die altes Wissen mit den Werten und Medien der Jugend verbinden.

Wie retten deutsche Gemeinden 300 Jahre alte Traditionen vor dem Aussterben?

Die Bewahrung jahrhundertealter Traditionen ist keine Aufgabe für Einzelkämpfer, sondern eine kollektive Anstrengung, die auf lokaler Ebene in den Gemeinden beginnt. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einer strategischen und kooperativen Herangehensweise, die auf drei Säulen ruht: Anerkennung, Aktivierung und Vernetzung. Es ist ein globales Anliegen, wie die Tatsache zeigt, dass mittlerweile 184 Staaten den UNESCO-Vertrag ratifiziert haben, aber die Umsetzung findet vor Ort statt.

Zunächst geht es um die Anerkennung: Gemeinden müssen ihr eigenes immaterielles Erbe identifizieren und wertschätzen. Das kann durch die Unterstützung von Heimatpflegern, die Durchführung von Inventarisierungen oder die Bewerbung für das Landes- oder Bundesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes geschehen. Dieser offizielle Akt der Anerkennung verleiht den Traditionen Sichtbarkeit und den Trägergemeinschaften Stolz und Legitimation. Der stetige Zuwachs im deutschen Verzeichnis zeigt die zunehmende Dynamik dieses Prozesses.

Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung des deutschen Verzeichnisses und verdeutlicht, dass es sich um einen lebendigen Prozess handelt, der auch moderne Kulturformen integriert.

Entwicklung des deutschen Kulturerbeverzeichnisses
Jahr Stand des Verzeichnisses Besonderheiten
2013 Deutschland tritt UNESCO-Übereinkommen bei Beginn der systematischen Erfassung
2023 144 Einträge Nach zehn Jahren Mitgliedschaft
2024 150 Einträge Technokultur und weitere moderne Formen
2025 168 Einträge 18 Neuaufnahmen, verstärkte Vielfalt

Die zweite Säule ist die Aktivierung. Eine Gemeinde kann die Weitergabe aktiv fördern, indem sie Räume zur Verfügung stellt (Werkstätten, Proberäume), Bildungsangebote in Schulen und Kitas integriert oder finanzielle Starthilfen für Projekte gibt. Es geht darum, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Trägergemeinschaften ihre Arbeit machen können. Die dritte Säule, die Vernetzung, verbindet die Akteure untereinander: Vereine, Schulen, Handwerker, Museen und die Verwaltung müssen an einem Strang ziehen. Regelmäßige runde Tische oder ein Kulturerbe-Beauftragter können hier als Katalysator wirken. Wie Christoph Wulf treffend sagt: „Kultur zu leben bedeutet, Gemeinschaft zu stiften.“

Der ganzheitliche Ansatz aus Anerkennung, Aktivierung und Vernetzung ist der nachhaltigste Weg. Um ihn in der Praxis anzuwenden, ist es essenziell, die drei Säulen der kommunalen Kulturarbeit zu verinnerlichen.

Wenn Sie als Heimatpfleger, Kulturbeauftragter oder engagiertes Mitglied einer Gemeinschaft das kulturelle Erbe Ihrer Region für die Zukunft sichern wollen, beginnen Sie damit, die Trägergemeinschaften zu identifizieren und zu stärken. Schaffen Sie Plattformen für den Austausch und bauen Sie Brücken zur jungen Generation, um sicherzustellen, dass Ihre Traditionen nicht nur erinnert, sondern gelebt werden.

Geschrieben von Franziska Becker, Dr.-Ing. Franziska Becker ist promovierte Umweltingenieurin und seit 13 Jahren Nachhaltigkeitsberaterin mit Spezialisierung auf Kreislaufwirtschaft, CO₂-Bilanzierung und betriebliches Umweltmanagement. Sie leitet ein Beratungsunternehmen mit 12 Mitarbeitenden, das Unternehmen und Kommunen bei der Dekarbonisierung unterstützt.