
Das reine Bewahren von Traditionen ist ihr Todesurteil.
- Junge Generationen werden nicht durch starre Regeln, sondern durch Relevanz und Mitgestaltung gewonnen.
- Der Schlüssel liegt in der Trennung von unveränderlichem Kern (der Traditions-DNA) und anpassungsfähiger Form.
Empfehlung: Ihre Aufgabe: Werden Sie vom Bewahrer zum aktiven Gestalter, der Brücken zwischen den Generationen baut.
Überall in Deutschland stehen engagierte Vereinsvorstände und Heimatpfleger vor der gleichen, schmerzlichen Frage: Wie können wir die Bräuche, die unsere Heimat seit Generationen prägen, vor dem Vergessen bewahren? Man sieht, wie die Teilnehmerzahlen bei Festen schwinden, wie das Wissen der Älteren verloren geht und wie das Engagement im Ehrenamt nachlässt. Die Sorge ist greifbar, dass mit diesen Traditionen auch ein Stück Identität und Gemeinschaft unwiederbringlich verschwindet.
Die üblichen Ratschläge sind bekannt: Man müsse Feste organisieren, die Jugend mehr einbinden und die alten Geschichten dokumentieren. Doch oft führen diese Bemühungen in eine Sackgasse. Feste werden zu kommerziellen Events ohne Seele, die Jugend fühlt sich von starren Regeln bevormundet und die Dokumentation landet in verstaubten Archiven, anstatt das Leben zu bereichern. Diese Ansätze behandeln Symptome, aber nicht die Ursache des Problems.
Was aber, wenn die wahre Lösung nicht im krampfhaften Festhalten am Gestern liegt, sondern in einer strategischen Neubelebung für das Morgen? Dieser Artikel schlägt einen anderen Weg vor. Es geht darum, die unveränderliche „Traditions-DNA“ – den wahren Kern eines Brauchs – zu identifizieren und sie in eine neue, für die heutige Zeit relevante „kulturelle Hülle“ zu kleiden. Es ist ein Leitfaden für eine aktive Gestaltung, die Tradition nicht als Museumsstück, sondern als lebendigen, atmenden Teil der Gemeinschaft begreift.
Wir werden untersuchen, warum einige Traditionen ein überraschendes Comeback erleben, wie man sie für die „Instagram-Generation“ attraktiv macht und wie man den Spagat zwischen Authentizität und Anpassung meistert. Anhand konkreter Beispiele und Strategien zeigen wir, wie Sie in Ihrem Verein die Weichen für eine lebendige Zukunft des lokalen Kulturerbes stellen können.
Inhaltsverzeichnis: Der Weg zur lebendigen Tradition in Ihrem Verein
- Warum erleben 40% der deutschen Regionaltraditionen gerade ein Comeback bei unter 35-Jährigen?
- Wie macht ein schwäbischer Trachtenverein Dirndl für die Instagram-Generation attraktiv?
- Eingefrorenes Brauchtum vs. adaptive Tradition: Was ist echter?
- Wie wird ein authentisches Erntefest zum austauschbaren Sauf-Event?
- Wie vermitteln Sie 70-jährige Wissensträger und 12-jährige Lernende in einem Projekt?
- Freilichtmuseum vs. gelebte Gemeinschaftspraxis: Was erhält Traditionen authentischer?
- Wie verbinden japanische Holzverbindungen ohne einen einzigen Nagel oder Schraube?
- Warum lernen deutsche Akademiker mit 40 Jahren Schreinern und Schmieden?
Warum erleben 40% der deutschen Regionaltraditionen gerade ein Comeback bei unter 35-Jährigen?
Entgegen der weitverbreiteten Sorge vor dem Aussterben lokaler Bräuche zeichnet sich ein bemerkenswerter Gegentrend ab. Eine wachsende Zahl junger Menschen unter 35 Jahren entdeckt regionale Traditionen neu für sich. Dieses Phänomen ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines tiefgreifenden Wertewandels. In einer globalisierten und digitalisierten Welt wächst die Sehnsucht nach authentischen Erfahrungen, lokaler Identität und einem Gefühl der Zugehörigkeit – Bedürfnisse, die lebendige Traditionen perfekt erfüllen können.
Der Schlüssel zu diesem Comeback liegt in der Wandlungsfähigkeit. Traditionen, die erfolgreich junge Menschen anziehen, sind keine starren Relikte, sondern haben es geschafft, eine Relevanz-Brücke zur Lebenswelt der Jüngeren zu bauen. Sie bieten Raum für Interpretation, persönliche Aneignung und kreative Weiterentwicklung. Wie es die Deutsche UNESCO-Kommission treffend formuliert, zeigen erfolgreiche Beispiele, wie lebendig und wandlungsfähig unsere kulturellen Ausdrucksformen heute sein können. Es geht nicht darum, junge Menschen zu überreden, sondern ihre Werte – wie Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Selbstverwirklichung – in den Traditionen sichtbar zu machen.
Um diesen Prozess strategisch zu steuern, ist ein tiefes Verständnis der Zielgruppe unerlässlich. Der Jugendforscher Simon Schnetzer betont in seiner „Trendstudie ‚Jugend in Deutschland 2024′“:
Diese renommierte Jugendstudie bietet die Grundlage, um zu verstehen, wie junge Menschen entsprechend ihrer Lebenssituation ticken und wie sie für die Übernahme von Verantwortung begeistert werden können.
– Simon Schnetzer, Trendstudie ‚Jugend in Deutschland 2024‘
Für Vereine bedeutet das: Zuhören statt vorschreiben. Die Frage darf nicht lauten: „Wie bekommen wir die Jugend dazu, unsere Tradition zu übernehmen?“, sondern: „Welchen Wertbeitrag kann unsere Tradition für das Leben junger Menschen heute leisten und wie können wir sie einladen, diesen Wert mitzugestalten?“
Wie macht ein schwäbischer Trachtenverein Dirndl für die Instagram-Generation attraktiv?
Die Antwort auf diese Frage ist ein Paradebeispiel für die erfolgreiche Anwendung des Prinzips von „Traditions-DNA“ und „kultureller Hülle“. Ein Trachtenverein, der verstanden hat, dass die Tracht mehr ist als nur ein historisches Kostüm, kann sie zu einem lebendigen Kulturgut für junge Generationen machen. Der Schlüssel liegt darin, den unveränderlichen Kern – die handwerkliche Qualität, die regionalen Muster, die historische Bedeutung – zu wahren und gleichzeitig die Präsentation und Nutzung modern zu gestalten.
Anstatt rigide Tragevorschriften durchzusetzen, die junge Menschen abschrecken, öffnen erfolgreiche Vereine den Dialog. Sie erlauben moderne Stoffe, zeitgemäße Schnitte oder die Kombination traditioneller Elemente mit moderner Kleidung. Die kulturelle Hülle wird angepasst: Die Tracht wird nicht nur beim offiziellen Festumzug getragen, sondern wird zum Ausdrucksmittel auf Social-Media-Kanälen wie Instagram. Professionelle Fotoshootings, Influencer-Kooperationen und Hashtag-Kampagnen machen die Tracht sichtbar und begehrenswert für eine Zielgruppe, die über traditionelle Vereinsnachrichten nicht mehr erreichbar ist.

Wie dieses Bild andeutet, entsteht eine faszinierende Symbiose: Die digitale Inszenierung macht das traditionelle Handwerk für ein neues Publikum sichtbar und attraktiv, während die Authentizität und die Geschichte der Tracht dem digitalen Inhalt Tiefe und Einzigartigkeit verleihen. Das Dirndl wird vom Museumsstück zum modischen Statement mit kultureller Substanz.
Fallbeispiel: Bund „Heimat und Volksleben“ e.V. (BHV)
Als größter Trachtendachverband in Deutschland setzt sich der Bund „Heimat und Volksleben“ seit seiner Gründung 1948 für die Pflege von Tracht, Tanz, Musik und Brauchtum ein. Viele seiner Mitgliedsvereine haben erkannt, dass die Zukunft der Tracht in der Begeisterung der Jugend liegt. Sie fördern aktiv Projekte, in denen junge Designer traditionelle Schnitte neu interpretieren oder in denen Social-Media-Workshops den Mitgliedern beibringen, wie sie ihre Leidenschaft für die Tracht online teilen und so eine neue Generation von Trachtenträgern inspirieren können.
Eingefrorenes Brauchtum vs. adaptive Tradition: Was ist echter?
Diese Frage führt direkt ins Herz der Herausforderung für jeden Heimatverein. Viele Vereine geraten in die „Authentizitäts-Falle“: Aus Angst, den ursprünglichen Charakter eines Brauchs zu verfälschen, verharren sie in einer starren, musealen Bewahrung. Sie definieren Authentizität über die exakte Reproduktion der Vergangenheit. Dieser Ansatz des „eingefrorenen Brauchtums“ führt jedoch oft zu sinkendem Interesse, Überalterung und letztlich zum Verschwinden der Tradition, da sie den Anschluss an die Gegenwart verliert.
Der Gegenentwurf ist die „adaptive Tradition“. Hier wird Authentizität nicht als statische Kopie, sondern als lebendiger Prozess verstanden. Der Fokus liegt auf der Bewahrung der „Traditions-DNA“ – des Sinns, der Werte und der Kernpraktiken –, während die äußere Form, die „kulturelle Hülle“, flexibel an die Bedürfnisse und Ausdrucksformen der jeweiligen Generation angepasst wird. Ein Heimatverein, dessen Schwerpunkt auf der Pflege des lokalen Brauchtums liegt, steht somit vor der strategischen Entscheidung, welchen Weg er einschlägt.
Die folgende Tabelle stellt die beiden Ansätze gegenüber und zeigt die Konsequenzen für die Zukunftsfähigkeit eines Vereins.
| Aspekt | Eingefrorenes Brauchtum | Adaptive Tradition |
|---|---|---|
| Definition | Starre Bewahrung historischer Formen | Flexible Anpassung an moderne Gegebenheiten |
| Mitgliederstruktur | Überalterung, Nachwuchsprobleme | Generationenübergreifend, wachsend |
| Veranstaltungsformate | Traditionelle Vereinstreffen | Projektbasierte Workshops, Pop-up-Events |
| Beispiele | Strenge Trachtenvorschriften | Moderne Interpretationen, Fusion-Ansätze |
Die „echtere“ Tradition ist also nicht die, die am ältesten aussieht, sondern die, die von einer Gemeinschaft aktiv gelebt, gefühlt und weitergetragen wird. Eine adaptive Tradition mag in ihrer äußeren Form anders erscheinen als vor 100 Jahren, aber sie erfüllt dieselbe soziale und kulturelle Funktion. Sie stiftet Identität, schafft Gemeinschaft und gibt Wissen weiter – und ist damit in ihrem Kern authentischer als ein perfekt konservierter, aber unbelebter Brauch.
Wie wird ein authentisches Erntefest zum austauschbaren Sauf-Event?
Der schmale Grat zwischen lebendiger Tradition und platter Kommerzialisierung ist eine der größten Gefahren für Volksfeste. Ein authentisches Erntefest, das ursprünglich die Gemeinschaft, die Dankbarkeit für die Ernte und lokales Handwerk zelebrierte, kann schnell seine Seele verlieren. Wenn der Fokus allein auf steigende Besucherzahlen und maximalen Umsatz durch Bier- und Imbissstände rückt, verkommt die Veranstaltung zu einem beliebigen Event ohne regionalen Charakter. Die ursprüngliche Bedeutung – die Traditions-DNA – wird von der lauten, kommerziellen Hülle erstickt.
Dieser „Identitätsverlust“ geschieht schrittweise. Zuerst werden überregionale Schausteller und Gastronomen zugelassen, weil sie mehr Standgebühren zahlen. Dann werden die kulturellen Darbietungen wie Volkstanz oder Handwerksvorführungen an den Rand des Festgeländes oder auf unattraktive Zeiten verlegt, um der Hauptbühne mit Partymusik Platz zu machen. Am Ende bleibt ein Fest, das zwar wirtschaftlich erfolgreich sein mag, aber seine kulturelle Funktion vollständig verloren hat und für die lokale Gemeinschaft keine identitätsstiftende Wirkung mehr besitzt.
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, benötigen Vereine und Gemeinden klare Schutzmechanismen. Es geht nicht darum, den Spaß zu verbieten, sondern darum, den traditionellen Kern bewusst zu schützen und aufzuwerten. Eine strategische Planung kann sicherstellen, dass Kommerz und Kultur koexistieren, ohne dass letztere untergeht.
Ihr Aktionsplan: So schützen Sie die Authentizität Ihres Festes
- Räumliche Zonierung: Richten Sie eine klar definierte „Traditions- und Wissenszone“ (z.B. mit Handwerksmarkt, Geschichtszelt) getrennt von der reinen „Feierzone“ (Bierzelt, Fahrgeschäfte) ein.
- Programmgestaltung: Platzieren Sie die kulturellen Höhepunkte – wie den Festumzug oder die Prämierung der Erntekrone – zur Primetime, um ihre Wichtigkeit zu signalisieren.
- Preisliche Anreize: Bieten Sie vergünstigten Eintritt für Besucher, die an traditionellen Workshops (z.B. Korbflechten, Most pressen) teilnehmen, um die aktive Auseinandersetzung zu fördern.
- Partnerschaften: Stärken Sie die lokale Identität durch gezielte Kooperationen mit regionalen Bio-Höfen, Slow-Food-Köchen und Manufakturen statt mit überregionalen Großhändlern.
- Qualitätskriterien: Legen Sie in der Satzung oder den Teilnahmebedingungen einen Mindestanteil an lokalen Produkten, Handwerksdemonstrationen und regionaler Musik fest.
Durch solche Maßnahmen wird die traditionelle Substanz des Festes geschützt und für die Besucher wieder erlebbar gemacht. Das Fest erhält seinen einzigartigen Charakter zurück und wird mehr als nur eine weitere Gelegenheit zum Feiern.
Wie vermitteln Sie 70-jährige Wissensträger und 12-jährige Lernende in einem Projekt?
Die Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten ist das Lebenselixier jeder Tradition. Doch oft klafft eine Lücke zwischen den Generationen. Während die Älteren über einen unschätzbaren Erfahrungsschatz verfügen, fehlt ihnen manchmal der Zugang zur Lebenswelt der Jungen. Die Jüngeren wiederum sind neugierig, werden aber von frontalen Lehrmethoden oder einer reinen Konsumentenhaltung abgeschreckt. Der Schlüssel zur Überbrückung dieser Lücke liegt in projektbasierten, partnerschaftlichen Formaten.
Statt eines klassischen „Unterrichts“ funktionieren gemeinsame Projekte, bei denen Alt und Jung auf Augenhöhe an einem konkreten, greifbaren Ziel arbeiten. Das kann der Bau eines traditionellen Festwagens sein, die Rekonstruktion eines historischen Werkzeugs, das Erlernen eines alten Tanzes für eine moderne Aufführung oder das Kochen eines fast vergessenen regionalen Gerichts. In diesem Prozess findet der Wissenstransfer organisch und beiläufig statt. Der 70-jährige Meister ist nicht nur Lehrer, sondern auch Projektpartner, und der 12-jährige Lernende ist nicht nur Schüler, sondern aktiver Mitgestalter.

Dieses Vorgehen schafft eine Win-Win-Situation: Die Senioren erfahren Wertschätzung für ihr Können und bleiben aktiv in die Gemeinschaft eingebunden. Die Jugendlichen erlernen eine praktische Fähigkeit, erleben Selbstwirksamkeit und entwickeln eine persönliche Verbindung zur Tradition und ihrer Geschichte. Wichtig ist, den sozialen Aspekt zu betonen: Gemeinsame Pausen, kleine Feste zum Abschluss von Projektphasen und die öffentliche Präsentation der Ergebnisse stärken den Zusammenhalt über Generationengrenzen hinweg.
Vorbild-Initiative: UNESCO „Wissen.Können.Weitergeben.“
Die von der Deutschen UNESCO-Kommission ins Leben gerufene Initiative „Wissen.Können.Weitergeben.“ ist ein exzellentes Beispiel für gelungenen Generationentransfer. In sogenannten „IKE-Werkstätten“ (Immaterielles Kulturerbe) werden Trägerinnen und Träger verschiedenster Traditionen eingeladen, nicht nur ihr Wissen zu teilen, sondern auch voneinander zu lernen und gemeinsam neue Wege der Vermittlung zu entwickeln. Der Fokus liegt auf dem Austausch von Erfahrungen und dem gemeinsamen „Sichtbarwerden“, was den partizipativen und wertschätzenden Charakter solcher Projekte unterstreicht.
Freilichtmuseum vs. gelebte Gemeinschaftspraxis: Was erhält Traditionen authentischer?
Ein Freilichtmuseum leistet wertvolle Arbeit: Es bewahrt historische Bausubstanz, dokumentiert alte Lebensweisen und macht Geschichte anschaulich. Doch für die Erhaltung von *immateriellem* Kulturerbe – also von Bräuchen, Tänzen, Handwerkstechniken und Ritualen – hat der museale Ansatz seine Grenzen. Eine Tradition, die nur noch hinter Glas oder in Form von Schautafeln existiert, ist im Grunde bereits gestorben. Sie wird zum reinen Anschauungsobjekt, losgelöst von der Gemeinschaft, die sie einst mit Leben füllte.
Die authentischere Form der Erhaltung ist die gelebte Gemeinschaftspraxis. Hier ist die Tradition kein Ausstellungsstück, sondern ein aktiver Teil des sozialen Lebens. Sie wird nicht nur gezeigt, sondern praktiziert. Der Maibaum wird nicht nur ausgestellt, sondern von der Dorfjugend im Wald geschlagen und unter Beteiligung der ganzen Gemeinde aufgestellt. Das Erntedankfest ist kein historisches Reenactment, sondern ein echtes Fest der lokalen Bauern und ihrer Familien. Diese aktive Teilnahme schafft eine emotionale Bindung und sorgt dafür, dass die Tradition relevant bleibt.
Ein allgemeiner gesellschaftlicher Trend untermauert diese These: Die Bereitschaft zum passiven Kulturkonsum scheint abzunehmen, während der Wunsch nach aktiver Teilhabe und Gemeinschaftserlebnissen wächst. Ein Indikator hierfür, auch wenn er aus einem anderen Bereich stammt, ist die Entwicklung der Besucherzahlen klassischer Kultureinrichtungen. So zählte die Deutsche Bibliotheksstatistik beispielsweise vor der Pandemie deutlich mehr Besuche als danach. Gab es 2019 noch durchschnittlich 2,7 Bibliotheksbesuche pro Einwohner, waren es 2022 nur noch 1,5 Bibliotheksbesuche je Einwohnerin und Einwohner. Dies deutet auf eine Verschiebung hin zu interaktiveren und gemeinschaftlicheren Kulturformen.
Für Heimatvereine lautet die strategische Konsequenz: Weniger „Ausstellen“ und mehr „Ermöglichen“. Die Rolle des Vereins wandelt sich vom Kurator eines Museums zum Moderator einer lebendigen Praxis. Die Aufgabe ist es, Räume, Anlässe und Ressourcen bereitzustellen, damit die Gemeinschaft ihre Traditionen selbst praktizieren und weiterentwickeln kann. Nur so bleibt das Kulturerbe ein dynamischer und authentischer Teil der Gegenwart.
Wie verbinden japanische Holzverbindungen ohne einen einzigen Nagel oder Schraube?
Auf den ersten Blick mag dieses Thema weit entfernt von deutschen Regionaltraditionen erscheinen. Doch bei genauerer Betrachtung bietet das traditionelle japanische Holzhandwerk eine kraftvolle Metapher für das, was wir als „Traditions-DNA“ bezeichnen. Japanische Zimmerleute entwickelten über Jahrhunderte hinweg hochkomplexe und ästhetisch ansprechende Holzverbindungen (Kanawatsugi), die ganze Tempel und Pagoden ohne einen einzigen Nagel oder eine Schraube zusammenhalten.
Diese Verbindungen sind die unsichtbare, aber entscheidende Essenz der Konstruktion. Sie sind das Ergebnis tiefen Wissens über das Material Holz, mathematischer Präzision und einer Philosophie der Harmonie. Die Verbindung selbst ist der unveränderliche, über Generationen perfektionierte Kern – die Traditions-DNA. Das fertige Möbelstück oder Gebäude, das daraus entsteht, kann in seiner Form, Größe und Funktion variieren – es ist die anpassungsfähige „kulturelle Hülle“.

Dieses Prinzip ist direkt auf unsere heimischen Bräuche übertragbar. Jeder Brauch hat einen solchen Kern: einen fundamentalen Sinn, eine soziale Funktion oder eine zentrale Werteaussage. Die Aufgabe eines Traditionsvereins ist es, diesen Kern – diese essenzielle Verbindung – zu identifizieren und zu schützen. Alles andere, die äußere Form, die Art der Organisation, die Medien der Kommunikation, kann und sollte an die heutige Zeit angepasst werden.
Wenn ein Schützenfest im Kern also Gemeinschaft und Zusammenhalt symbolisiert (die DNA), dann ist es zweitrangig, ob die Einladung per Brief oder per WhatsApp-Gruppe erfolgt (die Hülle). Wenn ein Erntedankbrauch die Wertschätzung für regionale Lebensmittel zum Ausdruck bringt (die DNA), kann er sich mit modernen Konzepten wie „Slow Food“ oder Urban Gardening verbinden (die Hülle). Die japanische Holzverbindung lehrt uns: Die Stärke und Langlebigkeit einer Tradition liegt in ihrem unsichtbaren, aber meisterhaft gestalteten Kern.
Das Wichtigste in Kürze
- Anpassung ist kein Verrat: Lebendige Traditionen entwickeln sich weiter. Der Schlüssel liegt darin, den Kern zu bewahren und die Form zu modernisieren.
- Fokus auf die „Traditions-DNA“: Konzentrieren Sie sich auf den tieferen Sinn und die Funktion eines Brauchs, nicht nur auf seine äußere Erscheinung.
- Generationenprojekte als Motor: Aktive, partnerschaftliche Projekte, bei denen Alt und Jung gemeinsam etwas erschaffen, sind der wirksamste Weg der Wissensvermittlung.
Warum lernen deutsche Akademiker mit 40 Jahren Schreinern und Schmieden?
Ein faszinierender Trend der letzten Jahre ist die Wiederentdeckung des Handwerks durch Menschen, die beruflich vor allem digital und konzeptionell arbeiten. Akademiker, Manager und IT-Spezialisten suchen in ihrer Freizeit gezielt den Weg in die Werkstatt, um mit den eigenen Händen etwas Greifbares zu schaffen. Dieser Wunsch nach analoger Tätigkeit ist mehr als nur ein Hobby; er ist eine Antwort auf zentrale Bedürfnisse der modernen Arbeitswelt.
Der Hauptantrieb ist, wie Experten beobachten, die Sehnsucht nach Selbstwirksamkeit und einem direkten, physischen Ergebnis. Nach einer Woche voller E-Mails, Meetings und abstrakter Konzepte bietet die Arbeit mit Holz oder Metall eine unmittelbare Befriedigung: Am Ende des Tages hält man ein fertiges Produkt in den Händen. Dieser Ausgleich zur digitalen Welt erdet und schafft ein Gefühl von Kompetenz und Stolz, das in der kopflastigen Berufswelt oft zu kurz kommt.
Der Trend zeigt sich nicht nur bei jungen Menschen, sondern zunehmend auch bei etablierten Akademikern, die im Handwerk einen Ausgleich zur digitalen Arbeitswelt suchen. Die Sehnsucht nach greifbaren Ergebnissen und handwerklicher Selbstwirksamkeit wächst.
Zusätzlich wird dieser Trend durch ein wachsendes Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewusstsein verstärkt. Wie die Publikation „Trends der Zukunft“ feststellt, macht sich besonders die junge Generation Gedanken über den sorgfältigen Umgang mit Ressourcen. Handwerkliche Tätigkeiten stehen für Langlebigkeit, Qualität und Reparaturfähigkeit – ein klares Gegenmodell zur Wegwerfgesellschaft. Die Fähigkeit, etwas selbst herzustellen oder zu reparieren, wird zu einem Ausdruck von einem bewussten und nachhaltigen Lebensstil.
Für Traditionsvereine, insbesondere solche mit handwerklichem Fokus, liegt hier eine riesige Chance. Sie können sich als Kompetenzzentren für diese sinnstiftenden Tätigkeiten positionieren und Kurse oder offene Werkstätten anbieten. Damit sprechen sie nicht nur potenzielle neue Mitglieder an, sondern beweisen auch die zeitlose Relevanz traditioneller Fertigkeiten für die Lösung moderner Probleme und die Erfüllung tiefer menschlicher Bedürfnisse.
Die Rettung und Belebung unserer regionalen Traditionen ist keine Aufgabe für Nostalgiker, sondern eine strategische Gestaltungsaufgabe für die Zukunft. Beginnen Sie noch heute damit, die „Traditions-DNA“ in Ihrem Verein zu entschlüsseln und bauen Sie die Brücken für die nächste Generation. Ihre aktive Beteiligung in einem lokalen Heimatverein ist der entscheidende erste Schritt.